22. Europäischer Gesundheitskongress München am 26. und 27. Oktober 2023

Gesundheitspolitisch stehen die Zeichen längst auf Wandel. Darin sind sich die Player im Gesundheitswesen zumindest theoretisch einig.  "Rettung für das überforderte Gesundheitswesen – Wer kommt zu Hilfe?" – so das Motto des 22. Europäischen Gesundheitskongresses München. 1000 Besucher – in Präsenz wie digital – haben lebhaft darüber diskutiert.

1.    Notfallgebühr in der Notfallaufnahme?

Eine dringende Änderung braucht es zum Beispiel beim ärztlichen Notdienst. Aber gelingt das über eine neue Gebühr? Einen Art Strafzins für alle, die den Rettungsdienst in Anspruch nehmen, ohne ein Notfall zu sein? Ja, sagt Dr. Andreas Gassen, Vorstandsvorsitzender der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Er hatte mit dieser Forderung in diesem Jahr für Schlagzeilen gesorgt und auf dem 22. Europäischen Gesundheitskongress München für Diskussionsstoff gesorgt. Fakt ist, nahezu in der Hälfte der Fälle rücken Rettungskräfte wegen vergleichsweiser harmloser Verletzungen oder Beschwerden aus.

Der Chef der Kassenärzte spricht sich deshalb für eine Gebühr aus, wenn jemand ohne offensichtlichen Grund direkt in die Notaufnahme kommt. „Das kostet die Solidargemeinschaft unnötig Geld und bindet medizinische Ressourcen.“ An erster Stelle müsse die telefonische professionelle Ersteinschätzung durch eine Leitstelle stehen. „Wer das ablehnt, soll zahlen. Der Griff ins Portemonnaie kann da was bewirken.“ Diese Ansicht blieb nicht unwidersprochen, denn was ist mit den Menschen, die ihre Beschwerden nicht entsprechend artikulieren können? Auch könne nicht jeder Patient erkennen, soll ich erst zum Facharzt oder doch besser sofort in die Klinik. Mehr Aufklärung wäre hier ein probates Mittel. In diesem Punkt waren sich Grünen-Politikerin Kerstin Celina und CSU-Kollege Bernhard Seidenath einig. Trotzdem pflichtet Dr. Michael Hubmann vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte, Gassen bei: „Die jahrzehntelang gewohnte 24/7-Mentalitätist ist nicht zukunftsfähig. Es bringt nichts, immer alles nur vom schlimmst-möglichen Szenario aus zu denken. Zu mir kam jüngst eine Mutter mit ihrer vierjährigen Tochter. Diagnose: virale Mittel-Ohrentzündung. Die Mutter nickte, das habe man ihr auch am Vortag in der Notaufnahme gesagt und heute wollen sie noch zum HNO-Arzt.“

Fazit:  Problem erkannt, aber die Lösung steht aus. Denn – auch das ist bekannt – mitunter nutzen Patienten lieber die Notaufnahme als wochenlang auf einen Facharzttermin zu warten. Eine intelligente Patientensteuerung ist demnach überfällig. Oder wie es Dr. Michael Bayeff -Filloff, Chefarzt des RoMed Klinikums Rosenheim ausdrückte: „Es ist nicht fünf vor 12, sondern bereits 10 nach 12.“  

2.    Pharmaindustrie auf Wanderschaft

Gibt es einen Brain-Drain in der Pharmaforschung? Oder warum ist Deutschland längst nicht mehr der Leader in diesem Bereich? Über die Ursachen wurde auf dem 22. Europäischen Gesundheitskongress München diskutiert. „Im Ranking des wissenschaftlichen Outputs rangiert Deutschland nur noch auf Rang vier. Die USA und China sind die eindeutigen Bestimmer,“ so Dr. Jasmina Kirchhoff vom Institut der Deutschen Wirtschaft. Der Pharma-Standort Deutschland wackelt
Beispiel BioNTech. Mit dem Corona-Impfstoff hat das Unternehmen Geschichte geschrieben, jetzt verlagert es einen Teil seiner Produktionsstätten nach England. Gründe, warum ausländische Standorte attraktiver sind, gibt es viele. Aufwendige Genehmigungsverfahren gehören dazu ebenso wie ein strenger Datenschutz, der es erschwert, anonymisierte Patientendaten für klinische Studien auswerten zu dürfen sowie Probanden zu rekrutieren. Kirchhoff: „Korea wächst als Produktionsstandort, China und Indien sind auf dem aufsteigenden Ast. Deutschland ist nur auf Platz fünf, auch wenn die Infrastruktur und die Qualität der Forschung top sind.“ Aber andere Länder holen auf, „Die Asiaten wollen nicht mehr nur die Produktionsstätten für billige Arzneimittel sein.“ Deutschland könne bei der Entwicklung von Pharmazeutika und Patentanmeldungen nicht mithalten.

Die Entwicklung eines neuen Arzneimittels ist teuer und kann bis zu 1,5 Milliarden Euro verschlingen. Deutschland kann mit der guten Ausbildung seiner Forschenden punkten. An seinen zehn Exzellenzuniversitäten gibt es eine herausragende Grundlagenforschung, aber es mangelt an transparenten Strukturen, an Institutionsübergreifenden Forschungsnetzwerken. Auch das sind hemmende Faktoren für die pharmazeutische Industrie. Die Deutschen würden zu „Studienmuffeln“, sagt Prof. Markus Lerch. Der Ärztliche Direktor des Klinikums der Uni München beobachtet, dass die Industrie klinische Studien lieber in Großbritannien und Spanien durchführen lässt, „weil sie die Überregulierung hierzulande fürchtet.“ Was also tun? Unter anderem andere gesetzliche Impulse, um das Umfeld für die Arzneimittelforschung wieder attraktiver zu machen.

3.    Pflege im Alter

Drei Millionen Pflegebedürftige leben in Deutschland, zwei Drittel von ihnen werden daheim versorgt, aber der Bedarf an außerhäuslichen Wohn- und Betreuungsmöglichkeiten steigt kontinuierlich.

Modelle, die beispielhaft vorangehen, wurden auf dem 22. Europäischen Gesundheitskongress München vorgestellt. Egal, ob kirchliche, kommunale oder private Träger, der Grundgedanke bei sogenannten Leuchtturmprojekten ist stets derselbe: Die Menschen in ihrer Lebenswirklichkeit abholen, ihnen vermitteln, auch sie können noch etwas Sinnvolles tun. Aktivieren statt in Passivität versinken lassen. Die Bewohner helfen mit beim Kochen, Aufräumen und Dekorieren des Heims. Kleine Wohneinheiten schaffen einen geselligen und vertrauten Rahmen. Der Kontakt zur Umgebung wird aktiv gesucht – durch Spaziergänge, Ausflüge oder Besuche im Kindergarten. Anke Franke, Geschäftsführerin der Evangelischen Diakonie Lindau e.V.: „Genauso wichtig ist der Leitgedanke: Gemeinsam statt einsam.“ Denn Einsamkeit ist gerade für Alte belastend, wenn keine Angehörigen in der Nähe wohnen. Deshalb sei es so entscheidend, alte und junge Menschen zusammenzubringen – sei es im Kindergarten oder im Heim. „Gemeinsam musizieren geht überall.“

Ein Beispiel für gelungene Integration ist die Idee des Pflegebauernhofs, die der westfälische Landwirt Guido Pusch umgesetzt hat. Auch hier der Ansatz: Alte Menschen im Alltag integrieren, ihnen nicht alles abnehmen, sondern sie anspornen. Sein Modell für entsprechende Wohngemeinschaften auf dem Hof hat inzwischen zahlreiche Nachahmer gefunden. Grundlegend ist das Miteinander und die Mithilfe im Alltag und sei es nur das Aufsammeln der Eier im Hühnerstall. Und auch das Wohlfühlen stimmt, allein durch das nahe Beisammensein mit Tieren wie Schweinen, Gänsen und Alpakas. Mittlerweile berät er interessierte Landwirte, die ebenfalls einen Pflegebauernhof planen. Inzwischen hat Pusch sogar einen eigenen Pflegedienst gegründet. „Wir wollen so wirtschaftlich wie möglich arbeiten, damit hier auch Menschen mit einer niedrigen Rente leben können. Denn viele haben einfach nicht mehr als 1.000 bis 1.500 Euro im Monat.“ Seine Initiative „Zukunft Pflegebauernhof“ bietet eine echte Win-Win-Situation: Eine anregende Lebenswelt für Pflegebedürftige und eine existenzielle Perspektive für sozial engagierte Landwirte. Konsens auf dem Europäischen Gesundheitskongress: Ziel muss es sein, dass solche Projekte ihren Modellcharakter verlieren und gleichberechtigt in die Regelversorgung integriert werden.

4.    Demographischer Wandel - wie reagieren Städte und Gemeinden

Der Demographische Wandel mit einer immer älter werdenden Bevölkerung bestimmt allmählich auch die Kommunalpolitik. Das wurde auf dem 22. Europäischen Gesundheitskongress München deutlich. Wie muss eine altersgerechte Stadt aussehen? Was sind spezielle Bedürfnisse von Senioren? Das versucht aktuell die Stadt Stuttgart herauszufinden. Schon einen Schritt weiter ist die Stadt München. Dort gibt es seit Jahrzehnten den Seniorenbeirat, der den Stadtrat berät, und pro Stadtbezirk eigene Seniorenvertretungen, die direkt von der Generation Ü 60 gewählt wird. Sie sehen sich als Lotse zwischen den Einzelnen und den Behörden sowie sozialen Verbänden. Denn es gibt vielfältige Hilfsangebote, aber die wenigsten kennen sie.

Wer sich mit Städteplanung beschäftigt, dem wird schnell bewusst: Es braucht generationenübergreifende Lösungen, weil viele Bedürfnisse „alterslos“ sind: Barrierefreie Zugänge brauchen Eltern mit Kinderwagen genauso wie Behinderte im Rollstuhl oder eine Seniorin mit Rollator. Über Rastplätze mit einer Bank, Trinkwasserbrunnen im Sommer, Mobilität und Sicherheit im öffentlichen Raum freuen sich Junge wie Alte. Und umso niederschwelliger Angebote sind, desto besser, wie Annette Gröger vom Gesundheitsbeirat der Stadt München zeigen konnte. „Wir bieten Gesundheitstreffs für alle im Quartier an und versprechen Orientierung, wer wo welche Hilfe bekommt. In einem sogenannten Gesundheitsladen gibt es zusätzlich individuelle Sprechstunden und Beratungen.“

Mitten im Leben ansprechbar sein ist gleichfalls das Motto des Hamburger Modells von einem Gesundheitskiosk. Er kann kostenfrei an allen Tagen von Versicherten bestimmter Krankenkassen genutzt werden. Geschäftsführer Alexander Fischer von Gesundheit für Billstedt Horn: „Wir bieten Gesundheitschecks und Impfungen an. Medizinisch geschulte Community Health Nurses beraten in sechs Sprachen zu allen Gesundheitsfragen.“ Entscheidend sei eine enge Zusammenarbeit mit Ärzten im Stadtteil. Denn es kommen auch Hilfebedürftige ohne eine Krankenversicherung.

Schnelle unbürokratische Hilfe anbieten zu können – das ist mit ein Ziel der WHO. Die Weltgesundheitsorganisation der Vereinten Nation hat die Jahre 2021 bis 2030 als Dekade des gesunden Alterns ausgerufen – Decade of Healthy Aging. Wobei Altern nach UN-Definition ab der zweiten Lebenshälfte beginnt. Denn eine umfassende Gesundheitsvorsorge braucht es nicht erst ab dem Renteneintritt.

Kongresspräsident Professor Karl Einhäupl, der wissenschaftliche Leiter Professor Günter Neubauer und die Kongressleiterin Claudia Küng freuen sich nach diesen erfolgreichen zwei Tagen in 2024 weiterzumachen: Der nächste Europäische Gesundheitskongress München findet am 10. und 11. Oktober 2024 wieder München im Hilton Park statt.

Herzlichst

Prof. Dr. Günter Neubauer
Prof. Dr. Günter Neubauer

Ihr Prof. Dr. Günter Neubauer
Direktor, Institut für Gesundheitsökonomik

Claudia Küng
Claudia Küng

Ihre Claudia Küng
Kongressleiterin & Geschäftsführerin
WISO S.E. Consulting GmbH

Der gesundheitspolitische Kongress fand im Herbst 2023 hybrid mit einer Teilnahmemöglichkeit vor Ort und digital statt.

Weitere Fotos des 22. Europäische Gesundheitskongress finden Sie hier.

Das Kongressvideo des EGKM 2023